MENSCHEN IN EINER ANDEREN WEITE SEHEN

Es ist ein rauer Wintertag. Aber trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen mit einer „alten“ Freundin auf den mit Bänken ausgestatteten Treppen an der Alster zu sitzen und einen heißen leckeren Apfelpunsch zu trinken. Wir nutzen natürlich die Gelegenheit unsere „kleinen“ Alltagsprobleme auszutauschen und uns gegenseitig unter Freundinnen gute Ratschläge zu geben. Ein älterer Herr mit zwei Aldi-Tüten, zerzausten weißen Haaren und einem abgenutzten Mantel, setzt sich am Ende
der Bank dazu, wahrscheinlich ein Obdachloser. Er begrüßt uns freundlich, wir reagieren mit
einem zögerlichen „Hallo“ und schauen uns kurz an, ob wir ggf. auf eine andere Bank wechseln sollten. Schütteln aber zum gleichen Zeitpunkt die Köpfe, bleiben sitzen und setzen unser Gespräch fort.

DAS GLAS WECHSELT SEINEN BESITZER

Nach einer Weile unterbricht er uns freundlich und sagt zu mir: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche und verzeihen Sie, wenn ich Ihrem Gespräch gelauscht habe, aber Ihre Freundin meint es gut mit Ihnen, sie sollten auf Ihren Rat hören.“ Etwas irritiert schauen wir zu ihm herüber, innerlich berührt es mich und wir nicken kurz mit einem kleinen Lächeln und setzen unser
Gespräch fort. Aus dem Augenwinkel beginne ich ihn neben dem Gespräch mit meiner
Freundin zu beobachten, er sortiert seine Flaschen und schnürt seine abgelaufenen, verschlissenen Schuhe neu zu.
Nach einer weiteren Weile, wir hatten unseren Apfelpunsch schon ausgetrunken, fragte er uns
angenehm höflich, ob wir ihm ein Pfandglas abtreten würden, er würde dies gern zurückbringen und sich dadurch ein wenig Geld ermöglichen. Wieder schauten wir irritiert und gaben ihm ein Pfandglas ohne weitere Bemerkung. Er drehte sich weg und sortierte unser Glas in seine Tüten.
Mittlerweile hatte er unsere Aufmerksamkeit gewonnen und wir tuschelten leise: „Hast Du gesehen, er trägt einen dicken Ehering – sein Bein sieht schlimm aus – der Mantel wirkt etwas dünn.“ Weiterhin fragen wir uns: „Wie kommt er zu solchen Lebensumständen? – Was könnte passiert sein?“.

DER SPAZIERGANG VERLÄUFT ANDERS

Bevor wir nun unseren Spaziergang an der Alster fortsetzen, nehmen wir uns vor, ihm auch das zweite Pfandglas zu übergeben und verabschieden uns lächelnd mit einem schönen Tag, weil wir irgendwie das Gefühl haben, eine kleine Verbindung zu ihm aufgebaut zu haben oder vielleicht er zu uns? Er blickt uns erneut aus seinen freundlichen großen braunen Augen an und wünscht uns ebenfalls noch eine schöne Zeit.
Die Begegnung mit ihm hat uns berührt und begleitet uns nun bei unserem Spaziergang noch eine ganze Weile. Wir stellen uns viele Fragen, philosophieren und betrachten die unterschiedlichsten möglichen Szenarien seines Lebens und denken aber auch über unsere irritierte Reaktion nach und fragen uns – warum?

WIR SEHEN DIE DINGE, WIE WIR SIND

Was ist passiert? Oder besser: was hat sich gezeigt? – Unser Menschenbild gegenüber Obdachlosen!
An dieser kleinen Begegnung haben wir mal wieder so wunderbar erfahren dürfen, was unsere subjektive Wahrnehmung mit uns macht und wie tief angelegte Überzeugungen unser Menschenbild prägen. Hier fällt mir gleich das Sprichwort ein: „Wir sehen nicht die Dinge, wie die Dinge sind, wir sehen die Dinge, wie wir sind.“
Und genau dieser Tatbestand begegnet mir fast täglich auch in den Unternehmen, wenn es um Führung gegenüber Menschen geht. Wenn es also darum geht, wie man sich begegnet und sich gegenseitig einlädt.

WIRKSAME FÜHRUNG IM WANDEL HAT MIT UNSEREM MENSCHENBILD ZU TUN

Warum treffen autoritäre und direktive Führungskräfte meist auf Menschen, die nicht selbständig zu denken und zu handeln scheinen, und ich meine hier wirklich scheinen, und immer „angetrieben“ werden müssen? Und warum berichten Führungskräfte mit einem kooperativen, einbindenden Führungsstil tendenziell eher über Mitarbeitende, die neugierig und gestalterisch sind und sich für die Firma einsetzen?
Weil jeder von uns selektiv und subjektiv wahrnimmt und alles, was nicht in unser Überzeugungssystem passt, herausfiltert.
Die andere Antwort ist, dass wir gemäß unseren Überzeugungen handeln und durch unsere Handlungen genau die Welt erschaffen, die wir nachher wieder selektiv beobachten. Ein „wunderbar“ geschlossener Kreislauf der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, der unser Menschenbild stabilisiert, es aber leider auch verarmen lässt.
Auf diesem Weg kreieren und stabilisieren wir auch unsere Menschenbilder mit denen wir Teams und Unternehmen führen.

DIE ÜBERZEUGUNG VON X

Douglas McGregor, ein amerikanischer Managementvordenker und Soziologe, hat sich dazu mit den zwei unterschiedlichen Menschenbildern im Unternehmenskontext auseinandergesetzt und die X/Y-Theorie geprägt.
Die Theorie X als Menschenbild sieht den Menschen als grundsätzlich unsicher, schwierig,
wandlungsbehäbig und nicht aus sich selbst heraus motiviert an. Die Führungskraft vermutet, dass die Mitarbeiter nur wenig Ehrgeiz haben, Verantwortung scheuen und angeleitet werden möchten. Sie prägt die Überzeugung, dass Menschen nach einem hohen Maß an Sicherheit streben und Risiko und Neues vermeiden. Dies führt in der Reaktion meist zu einem autoritären, direktiven Führungsverhalten.
Und leider sehe ich manchmal sogar die Zunahme dieses Führungsstils, gerade dann, wenn der Wandel im Unternehmen doch nicht schnell genug realisiert wird, wie vielleicht die eigene Vorstellung und Erwartung besteht. Dann hole ich, mein „wahres“ Menschenbild wieder heraus und übe Druck und Macht aus.

DIE ÜBERZEUGUNG VON Y

Die Theorie Y als Menschenbild hingegen geht davon aus, dass die Menschen motiviert, vielseitig, wandlungsbereit und leistungswillig sind. Dabei sieht die Führungskraft in den Menschen ein großes, unterschiedliches Potential, welches bei Förderung entfaltet werden kann und sich in der Verantwortungsübernahme und Gestaltungslust wiederspiegeln wird. So entscheidet sie sich als Führungskraft für einen kooperativen und einbindenden Führungsstil.
Es kann also sein, dass ich als Mitarbeiter heute im gleichen Unternehmen arbeite, aber ein völlig unterschiedliches Verhalten der einzelnen Führungskräfte im Unternehmen erlebe. Dies liegt nicht an der Interpretation der vorliegenden Führungsleitlinien, sondern an dem Menschenbild. Das Führungsleitbild würde nur eine Verhaltenserwartung ansprechen. Die eigentlich erlebte Führung hat ursächlich mit dem persönlichen Menschenbild zu tun. Dies führt vielfach zu zusätzlichen
Irritationen im Wandel, weil diese Erfahrung auch noch emotional belegt ist.

UNSER MENSCHENBILD MACHT DEN UNTERSCHIED

McGregor ist davon überzeugt, dass heute im 21. Jahrhundert in der Führung von der Theorie Y ausgegangen werden sollte und empfiehlt, die Theorie X aufzugeben. Dem schließe ich mich mit voller Überzeugung an, da mein Erleben im Unternehmen immer sehr potentialgefüllt ist. Ich habe die Gelegenheit mit den unterschiedlichsten menschlichen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten zu dürfen und in allen Gruppen gibt es immer viel mehr menschliches Potential, als die Gruppe oder
der Einzelne nutzt oder im Unternehmen gesehen wird.
Für mich bleibt es eine Haltungsfrage und keine (antrainierte) Verhaltensfrage. Fangen wir an, an unseren eigenen Persönlichkeitsanteilen und -haltungen zu arbeiten, damit ein Wandel in kollektiver Intelligenz und unter Ausschöpfung der vorhandenen Potentiale gelingen kann. Lassen wir aus unserem Inneren heraus menschliche Weite zu!

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