VERPASSTE CHANCEN

Bei einem Netzwerktreffen erzählte Mareike L. bei der Nachfrage, wie sie denn die Corona-Zeit erlebt hätte: ich war die ganze Zeit im Büro. Sie ist Marketingleiterin eines kleinen mittelständischen Unternehmens in Brandenburg und der Chef lässt kein Homeoffice zu. Bei der Nachfrage, warum der Chef denn, gerade in dieser besonderen Situation kein Homeoffice zu lässt,
begründetet sie dies mit einem Grinsen: „Unser Chef hat gesagt, wir haben ja hier am Standort auch eine Produktion, in der die Mitarbeiter vor Ort sein müssten und auch nicht von zu Hause arbeiten können. Also bleiben alle hier am Standort und im Büro.“ Spannende Argumentation im Kontext der aktuellen Zeit – da lohnt es sich mal genauer hinzuschauen und zu untersuchen, was dahinter stehen könnte.

MEIN DENKEN IST DAS RICHTIGE

Natürlich kam direkt die erste Frage auf: Hat der Geschäftsführer diese Entscheidung alleine getroffen oder auch andere Mitarbeiter des Unternehmens bei der Betrachtung der Situation und Einschätzung beteiligt? Berichtet wurde: Es gab tatsächlich einen Austausch in einer kleinen Gruppe. Unter vorgehaltener Hand, wird jedoch davon gesprochen, dass diese Personen, nicht
wirklich einen entscheidenden Einfluss haben. Kurzum, die Entscheidung eines ganzen Unternehmens blieb auf die Denkmuster einer einzelnen Person beschränkt.

Das grundsätzliche Ansinnen einer „Gerechtigkeit“ aller Mitarbeiter ist in keiner Weise zu verurteilen. In dieser besonderen Situation gibt es jedoch nicht nur eine Lösung, sondern viele. Weiterhin ist eine eventuell „verordnete“ Solidarität, soweit dies überhaupt eine sein kann, für alle im Unternehmen kritisch zu sehen. Unterschiedliche Perspektiven und Lösungsansätze auf Situationen können aber nur gehoben werden, wenn es eine Bereitschaft gibt Herausforderungen im Sinne einer best möglichen Lösung für alle Beteiligten zu teilen, damit ich die kollektive Intelligenz eines Unternehmens nutzen kann.

ZWEI UNTERNEHMEN IM VERGLEICH

Ich blicke mich um und stoße auf ein anderes mittelständisches Unternehmen in der Nähe von Lüneburg. Wir haben die gleiche Situation: ein mittelständisches Unternehmen mit einem eigenen Produktionsstandort und Mitarbeiter in der Verwaltung, im Marketing, im Business Development und in der Qualitätssicherung.
Bei der Nachfrage, wie die Geschäftsführerin mit der Situation umgegangen ist, berichtet sie Folgendes: Unsere Überlegungen gingen von Anfang an in die Richtung, wie können wir den bestmöglichen Schutz für die Mitarbeiter und das Unternehmen gewähren. Mit Eintritt der Pandemie haben wir uns entschlossen alle Mitarbeiter, die nicht zwingend vor Ort seien müssen, ins Homeoffice zu schicken, um weiterhin mit einem hoffentlich minimierten Risiko das unternehmerische Geschäft aufrecht zu erhalten.

Mit Gedanken an das erste Fallbeispiel interessierte mich sehr: „Fühlten sich die Mitarbeiter der Produktion nicht ungerecht behandelt, da sie ja nicht ins Homeoffice gehen konnten.“ „Nein, wir haben nachgefragt“, sagte die Geschäftsführerin. Die meisten arbeiten gern bei uns und für sie ist es klar, dass sie die Produktion weiter aufrechterhalten und stützen. Auch haben die Mitarbeiter in der Produktion erwähnt, dass sie mit den Mitarbeitern von der Qualitätssicherung und Produktentwicklung ständig im telefonischen Austausch stehen. Die Aussage: „Die arbeiten doch von zu Hause und haben ja keinen Urlaub.“

MANCHMAL ENTSTEHT DARAUS SOGAR MEHR

Darüber hinaus berichtete die Geschäftsführerin noch von einer sehr gemeinschaftlichen Initiative, die sich die Mitarbeiter im Homeoffice ausgedacht haben. In den ersten drei Wochen der Pandemie, in denen auch die ganzen Mittaglokale und Bistros der Umgebung geschlossen hatten, haben sich die Mitarbeiter im Homeoffice eine zusätzliche Unterstützung für die Produktion
überlegt. Alle zwei Tage taten sich drei Mitarbeiter zusammen und kochten etwas, machten kleine Canapés oder backten Kuchen. Dies würde den Produktionsmitarbeitern am Standort immer Mo, Mi und Do gebracht mit einem herzlichen Gruss von den Kollegen.

„Geht man auch heute in die Produktion, hat man nicht das Gefühl von Neid, Sonderbehandlung der Distanz gegenüber den Kollegen im Homeoffice – ganz im Gegenteil.“ Sie berichte auch darüber, dass man trotz der unterschiedlichen Situation, irgendwie näher zusammengerückt ist und dass man in der Zeit so wunderbar gespürt hat, dass man zusammengehört.
Hier in dem Lüneburger Unternehmen ist eine Kultur des Miteinanders, der gegenseitigen Unterstützung und der Fürsorge gelebt wurden. Und diese Kultur wurde nicht vorgegeben, sondern von vielen Menschen im Unternehmen gestaltet und mitgetragen. Das ist gelebte Solidarität und Partizipation in einer Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts.

AUS DER PERSPEKTIVE DES TEAMS

Zurück zu dem Unternehmen in Brandenburg. Irgendwie lässt es mir keine Ruhe und ich möchte herausbekommen, ob sich denn die Mitarbeiter in der Produktion ungerecht behandelt gefühlt hätten, wenn die anderen Kollegen ins Homeoffice während der Pandemie gegangen wären. Claus D. war bereit mir zu antworten: „ Also, mein Arbeitsplatz ist hier in der Produktion und ich
muss vor Ort sein. Wenn ich hier vor Ort bin, dann kann ich meiner Tätigkeit nachgehen und ich verdiene Geld. Mein Arbeitsplatz gibt keine Homeoffice-Möglichkeit her, dies ist mir klar. Wo die Kollegen arbeiten, die nicht ortsgebunden sind, ist mir egal. Hauptsache unsere Absprachen, Termine und Prozesse können wir gemeinsam sicherstellen.“

Irgendwie hört sich dies von Claus D. entspannter an, als der Geschäftsführer dies einschätzte.
Vielleicht basierte die Entscheidung auf dem Bedürfnis nach Kontrolle und einer gewissen Unsicherheit vor den Führungsherausforderungen in dieser Ausnahmesituation.

LOSLASSEN, ZULASSEN UND DARAUS KULTURELL WACHSEN 

Natürlich fällt es auch erfahrenen Führungskräften und Unternehmern schwer loszulassen. Und doch ist es heute notwendig, die Veränderungen, die wachsenden Anforderungen, die individuellen Bedürfnisse einer veränderten Gesellschaft zu
berücksichtigen und seine eigenen Denkmuster in Frage zu stellen. Ich kann eine Ignoranz-Haltung in meinem eigenen Unternehmen gegenüber dem Umfeld nicht lange aufrechterhalten, dafür sind Unternehmen heute viel zu durchlässig geworden. Heute korrigieren die Märkte und die Gesellschaft Unternehmen und nicht umgekehrt.


Daher sollte ich die Bedürfnisse nicht mehr ignorieren, denn ich verliere existentielles Potenzial für meine Unternehmensentwicklung. Leistungsfähige Mitarbeiter zwischen 25 -35 werden ganz sicher nicht in das Unternehmen kommen. Es geht heute darum, den Spagat zwischen den unterschiedlichen Anspruchsgruppen und dem unternehmerischen Kontext fruchtbar zu orchestrieren. Dies heißt gemeinsam vieles Ausprobieren, Lust auf Veränderung und Gestaltung zu bekommen und Partizipation und die daraus entstehenden Initiativen zuzulassen.
Noch mehr als in der Vergangenheit sind jetzt Chancen da, eine wertvolle, bereichernde neue Arbeitswelt gemeinsam für morgen zu erschaffen.

 

#WIRKULTUR

 

 

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