DAS WARTEN ANDERS SEHEN

„Warten, warten, warten“ – dass irgendetwas zu Ende geht, das irgendetwas vorüber geht. Die meisten Menschen empfinden das aktuelle „Warten“ als verlorene und anstrengende Zeit und entwickeln eine Abneigung gegenüber dieser Quarantäne. Woher rührt dieses ungute Gefühl, des “Fast-nicht-aushalten-Können” und was können wir dagegen tun?

IMMER PASSIERT ETWAS

Vielleicht haben wir uns in unserem bisherigen Alltag an die Tatsache gewöhnt, dass immer etwas passiert, dass immer etwas in Bewegung ist, dass kein Stillstand mehr stattfindet. Wir leben in einer Zeit der Reizüberflutung, des ständigen Befeuerns, des umtriebigen Seins, die uns immer schneller werden lässt und zu jedem erdenklichen Zeitpunkt ablenkt.

Aber vielleicht ist das Warten für uns so unerträglich, weil das Ereignis, das der gegenwärtigen Situation den Sinn gibt, noch in der Zukunft liegt, dass tolle Konzert, der Strandurlaub oder das Wiedersehen mit der Familie. Wer seine Gedanken permanent in der Zukunft, beim nächsten Termin oder den noch vielen vorliegenden Arbeitspaketen abschweifen lässt, ist nicht gut darin,
die Gegenwart zu schätzen.

Die negative Deutung von „Warten“ hat etwas mit unserer Wahrnehmung von Zeit zu tun. Das Warten ist heute für uns schlimmer denn je, denn es ist meist eine unfreiwillige fremdbestimmte Pause von der gewohnten Geschäftigkeit, von dem permanenten Drehen im Hamsterrad. Vielleicht bewerten wir es sogar manchmal als „Nichtereignis“ im hektischen Alltag unserer Schneller-Höher-Weiter-Gesellschaft.

UNGEDULD – EIN KULTURELL ANGELEGTES PROBLEM

Menschen, die von ihrem nächsten Urlaub oder dem Besuch des Wochenendhäuschen in den Bergen träumen. Menschen, die in freudiger Hoffnung auf ihr nächstes Kind sind oder Menschen, die sich nach ihrem Liebsten am Wochenende sehnen, empfinden eher Sehnsucht und Hoffnung.
Dieses Gefühl, was diese Menschen bewegt, ist anders. Es ist anders gegenüber denjenigen, die eher unangenehme Wartesituationen spüren, denn dahinter steht der verdammte Zeitdruck. Vor diesem verdammten Zeitdruck sind wir wahrscheinlich alle nicht ganz gefeit. Holt er uns doch immer wieder ein. So stehe auch ich morgens an der S-Bahn und möchte pünktlich den ICE am Hauptbahnhof erreichen, um nach Berlin zu kommen. Neben mir steht ein älterer Herr und wir
kommen kurz ins Gespräch, er will seine Enkel in Lüneburg besuchen und mit ihnen den Tag verbringen. Während ich permanent auf die Uhr schaue, etwas nervös hin und her gehe, die 30 Sekunden Verspätung sofort registriere und auf die Gleise starre, um irgendwie den Zug herbeizuzaubern. Derweil bleibt der ältere Herr, der sich in der Zwischenzeit auf die Bank gesetzt
hat, lächelnd friedvoll und entspannt sitzen.

Obwohl wir beide auf das Eintreten desselben Ereignisses, nämlich der Ankunft des Zuges warten, sind unsere Reaktionen höchst unterschiedlich. Bei mir ist das Warten an einen spezifischen Abfahrtzeitpunkt am Hauptbahnhof gebunden, an Pünktlichkeit und an einen konkreten Termin geknüpft. Für den älteren Herrn ist das Warten einfacher, weil sein Ankommen in Lüneburg keinen festen Zeitpunkt hat und er sich ohne zeitlichen Druck auf seine Enkelkinder freuen kann.
Die negativen Emotionen beim Warten rühren also von unserem kulturell angelegten (mitteleuropäischen) Zeitverständnis her. In ihm ist die Zeit gleichmäßig getaktet und daher für uns selbstverständlich planbar. Natürlich kann die Zeit von dieser Regel abweichen – mal dehnt sie sich, dies nennen wir dann Langeweile, in besonderen Glücksmomenten vergeht sie dann „wie im
Flug“ oder wir sind im Flow. Der ältere Herr, der sich auf seine Enkelkinder freut, kann sein Warten als genau so eine Abweichung von der getakten Regel annehmen. Ich in diesem Moment hingegen nicht.

“ZEIT IST GELD” – EIN ANGELEGTER GLAUBENSSATZ

Die schlechten Gefühle zum Warten und zu der Zeit fielen also nicht vom Himmel, sondern sind kulturell erzeugt. Bis ins 19. Jahrhundert verfügten nur wenige Menschen über Uhren und der Tagesablauf richtete sich in der Regel nach dem Sonnenstand. Daher waren Zeiteinheiten und Pünktlichkeit, wie wir sie heute kennen und interpretieren, noch unbekannte Orientierungen.
Erst mit den Uhren und weiteren zahlreichen Zeiteinteilungsmöglichkeiten, sowie dem Slogan „Zeit ist Geld“ etablierte sich die Idee, dass man Zeit genauso wie Geld managen kann.

Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die Ungeduld wartender Fahrgäste geboren, weil sie nun die pünktliche Abfahrt voraussetzen und verlernt haben zu warten. Gerade im letzten Jahrhundert haben wir die Zähmung der Zeit und vor allem der Wartezeit auf die Spitze getrieben und damit den Umgang mit Wartezeit nicht erleichtert, sondern eigentlich noch erschwert. Inzwischen sind an vielen Bahnsteigen der S-Bahnhöfe und Bushaltestellen die verbleibende Zeit minutengenau angezeigt. Es laufen Infotainment-Clips, Video-Botschaften und zusätzliche Musik, soll dies uns doch die Zeit vertreiben.

Doch paradoxerweise verstärken genau diese Maßnahmen das Phänomen, führen innerlich zu noch mehr Ungeduld und Frustration. Unter philosophischer Betrachtung hat man herausgefunden, dass das Warten immer dann zur Qual wird, wenn Zeit und Warten dem menschlichen Planen und bürokratischen Prozessen unterworfen werden. Irgendwie verrückt! Denn wenn dann die Koordination versagt und die Verspätungen auftreten, verkehrt sich das Gefühl von Kontrolle über die Zeit in ihr Gegenteil: in Stress und Hilflosigkeit. Es scheint, als wäre die ganze Welt so beschleunigt, dass es kein Zurück gäbe. Doch das täuscht. Gerade jetzt können wir lernen mit der Zeit und mit dem Managen von Zeit wieder anders umzugehen.

WIE VERÄNDERN WIR UNSERE KULTURELLE ZEITPRÄGUNG?

Wenn also unser Verständnis von Geschwindigkeit und Langsamkeit, Pünktlichkeit und Zeit kulturell erworben ist, warum sollten wir es nicht ändern können? Vielleicht kann ein gewisses Maß an Geduld und Warten wieder erlernt werden. Auch ich habe da
sicherlich noch Potential. Bemerke ich doch immer mal wieder, dass ich mich und die Zeit doch überholen will.

Was also tun, bevor der innere Druck immer größer wird und man fast platzt vor Ungeduld? Wie reagieren, bevor man es nicht aushält, dass jetzt endlich mal konkrete Ansagen gemacht werden, wie es weiter geht?

Geduld ist die Kunst nur langsam wütend zu werden.

Japanisches Sprichwort

WIR BRAUCHEN MEHR GELASSENHEIT

Geduld und Gelassenheit üben geht wahrscheinlich am besten, indem man über sich nachdenkt. Kann man doch bei dieser Betrachtung zu dem Schluss kommen, dass die meisten unserer ungeduldigen Probleme aus den hohen Erwartungen erwachsen, die wir an Dinge stellen oder auch an Beziehungen. So soll der der Tag bitte möglichst reibungslos laufen nach festen Terminen. Wir bemerken, dass schon geringe Abweichungen vom Plan ein Gefühl bei uns auslöst, als ob wir alle Zügel in unserer Hand verloren haben und Unmut sich breit macht.
Wir könnten also beim aktuellen Warten uns erst einmal gewahr sein, dass dieser ganze Unmut und die Wut nichts an unserer Situation ändert. Ganz im Gegenteil, in einer gewonnenen Gelassenheit bleibt es möglich Alternativen zu denken und Zukünfte zu spinnen.

Dieses „In uns Gehen“ führt direkt zur Wahrnehmung unserer Gegenwart zur Achtsamkeit. Das Warten ist, wie wir nun wissen, nur unangenehm, wenn wir mit unseren Gedanken viel zu oft bereits in der Zukunft sind. Lebt man stattdessen in der Gegenwart, ist der Moment des Wartens einfach nur ein Moment im Hier und Jetzt.

Weiterhin könnten wir über unser eigenes Zeitverständnis nachdenken. Wie wäre es, wenn man sich etwas weniger von der Uhrzeit und den Pünktlichkeitsgehorsam drangsalieren lässt und etwas mehr von den Ereigniszeit-Kulturen anderer Länder und Völker inspirieren ließe? Vielleicht täten es ein paar strikt eingegrenzte Termine und Meetings weniger im Kalender auch. Wenn man sich eben einfach noch eine Tasse Tee auf dem Balkon gönnt und dem frühlingshaften Vogelgezwitscher lauscht– und abwartet.

#SELBSTFÜHRUNGSKULTUR

 

 

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